15. Juni 1968
1364, 10 Sonnabend Tag der South Ferry - s.K. 90, 25.

1364, 11 Tag der Public Library - (dt. und engl.) Tag der Leihbücherei; New York Public Library, 1895 durch Vereinigung der Astor- und Lenox Libraries und des Tilden Trusts entstanden; zunächst verschiedene Standorte. Das Hauptgebäude 42. Straße und 5. Ave. wurde am 23.5.1911 eröffnet. Zeitweise unterhielt sie bis zu 80 Zweigstellen; mit 49,5 Mio. Medien, davon 17,9 Mio. Büchern, ist sie eine der fünf größten Bibliotheken der Welt.

1364, 12-15 Du mußt es ... frühere Siege, etc. - Anspielung auf die Boxkampfszene in Bertolt Brechts (s.K. 211, 33) »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«, 15. Szene: »Dreieinigkeitsmoses zweihundert Pfund/Alaskawolf-Joe hundertsiebzig.« In den Anmerkungen zu dieser Oper entwickelt Brecht in der Gegenüberstellung der dramatischen und der epischen Form des Theaters seine »wissenschaftliche« Sicht.

1364, 12-
1366, 36
Du mußt es ... einmal wissenschaftlich besehen - Císař hielt am 5.5.1968 in Prag zum 150. Geburtstag von Karl Marx eine Rede, die von dem Moskauer Akademiemitglied F. Konstantinow als »revisionistisch« gebrandmarkt wurde. Er verglich Císař in einem »Prawda«-Artikel mit Bernstein, Kautsky und »rechtsgerichteten« Sozialdemokraten. Johnsons Gegenüberstellung der von Císař zu Marx Geburtstag gehaltenen Rede und des von Konstantinow zu Stalins zweitem Todestag verfaßten Artikels verweist auf die Bedeutung öffentlich begangener und ideologisch nutzbar gemachter Jahrestage; vgl. Schmidt (2000), S. 156.

1364, 17 ČESTMIR CISAŘ - Geb. 2.1.1920, tschech. Parteifunktionär und Journalist, 1946-57 verschiedene Parteifunktionen in Prag und Plzeň, 1958 stellv. Chefredakteur von Rudé Právo, 1961 Chefredakteur von Nová Mysl; 1963 Sekretär des ZK der KPČ und kurz darauf - bis 1965 - Kultusminister, 1965-68 Botschafter in Bukarest, 1968 Sekretär des ZK der KPČ, Mitglied des ZK-Sekretariats und Präsident des Tschechischen Nationalrates, 1969 seiner Funktionen enthoben, 1970 aus der KPČ ausgeschlossen.

1364, 23 Rudé Právo - s.K. 1003, 20.

1364, 24 Nová Mysl - (tschech.) übersetzt im Text 1364, 25. Monatszeitschrift der KPČ. Erschien seit dem 1.5.1947 sechsmal jährlich unter dem Namen »Revue des sozialistischen Humanismus«, hg. von der Sozialistischen Akademie; seit 1950 als Monatszeitschrift »Revue des Marxismus-Leninismus«, seit 1954 als theoretische und politische Zeitschrift des ZK der KPČ. 1966/67 erschien die Zeitschrift vierzehntäglich.

1364, 35 Hl. Novotný - s.K. 523, 9f.; 1340, 28.

1365, 9 FJODOR VASSILJEVIČ KONSTANTINOV - Fjodor Wassiljewitsch Konstantinow, geb. 8.2.1901, sowj. Parteifunktionär, Journalist, Philosoph; Mitglied der komm. Partei seit 1918; 1936-41 Abteilungsleiter bei der »Prawda«; 1945-51 Sektionsleiter am Philosophischen Institut der Akademie der Wissenschaften; 1952-54 Chefredakteur der Zeitschrift »Voprossy filosofii«, 1954-55 Direktor der Akademie der Wissenschaften; 1955-58 Chef der Abteilung für Propaganda und Agitation; 1958-62 Chefredakteur der Zeitschrift »Kommunist«, 1962-67 Direktor des Instituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR; s.K. 1365, 25-1366, 32.

1365, 11-21 der K.P. ... Sowjetunion ohne B. - Nach der Oktoberrevolution 1918 benannte sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands (Bolschewiki) in Kommunistische Partei Rußlands (Bolschewiki) - KPR (B) um, 1925 hieß sie Kommunistische All-Unionspartei (Bolschewiki) und seit 1952 Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU). Die Unterscheidung zwischen den ursprünglichen Fraktionen der russ. Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, den Bolschewiki (Mehrheitlern) und den Menschewiki (Minderheitlern) war längst obsolet geworden. In dem Einparteiensystem war die KPdSU von 1920 bis 1990 die einzige relevante Macht. Das oberste Organ der Partei, der Parteitag, wählte das Zentralkomitee, das seinen Einfluß unter Stalin verlor und später unter der Ausweitung auf über 400 Mitglieder litt; s. 1374, 17f.; 1537, 29 und 36.

1365, 11-18 Autor des Lehrbuches ... (Voprossy Filosofii, 2/1955) - Wolfgang Leonhard über den Wandel der »Prawda«-Berichterstattung zu Stalins Jahrestagen: »5. März 1955: Der zweite Jahrestag des Todes von Stalin wird bedeutend zurückhaltender begangen als ein Jahr zuvor. Auf der Titelseite wird Stalin nicht erwähnt. Die ›Prawda‹ veröffentlicht lediglich im Innern des Blattes einen recht zurückhaltenden Artikel Konstantinows ›J.W. Stalin und die Fragen des kommunistischen [sic] Aufbaus‹«; vgl. Leonhard (1959), S. 182.
»Der bekannte Sowjetideologe und Autor des Lehrbuchs ›Historischer Materialismus‹ Fjodor Konstantinow lehnte die vereinfachende Darstellung ab, die kapitalistischen Produktionsbeziehungen seien ein Hemmschuh der Entwicklung. ›Die Produktivkräfte fahren fort, sich auch unter den Verhältnissen des Imperialismus zu entwickeln.‹ Es sei nicht zu übersehen, daß sich auch im Imperialismus die Technik entwickele.(›Woprossy Filosofii‹, Nr. 2, 1955.)«, ebd., S. 189.

1365, 12 »Historischer Materialismus« - Das Buch erschien 1954 im Moskauer Staatsverlag für Politische Literatur; eine dt. Übersetzung konnte nicht nachgewiesen werden; s.K. 76, 33f.; 1814, 36-39

1365, 15f. Zeitung Pravda, Kennern ... bekannt als Wahrheit - s.K. 190, 29.

1365, 18 Voprossy Filosofii - (russ.) Fragen der Philosophie, Zeitschrift des Instituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR.

1365, 25-
1366, 32
Cisař geht in ... weiterhin stärken wird - Vgl. den Artikel »Soviet Denounces A Czech Official« der NYT vom 15.6.1968: »A leading Soviet philosopher of Marxism, Prof. Fyodor V. Konstantinov, denounced Mr. Cisar for having complained that Leninism [...] represented a monopolistic interpretation of Marx’s views.
Writing in Pravda, the Soviet Communist party organ, Professor Konstantinov also assailed Mr. Cisar for having echoed the opinions of Western specialists on Marxism that Leninism was a ›Russian phenomenon‹ and alien to Western Europe. [Die NYT beschreibt die sowj. Politik als widersprüchlich, da einerseits Prag kritisiert werde, andererseits nach außen harmonische Beziehungen gezeigt würden.] This was illustrated today by a cordial meeting of members of the Czechoslovak National Assembly with Leonid I. Brezhnev, chief of the Soviet Communist party. The delegation is headed by Josef Smrkovsky [...].
Tass, the Soviet press agency, reported that the Czechoslovaks and Mr. Brezhnev had a ›warm and friendly talk.‹ Mr. Brezhnev and Mr. Smrkovsky were said to have expressed confidence that the visit ›will help further strengthen the fraternal friendship and cooperation between our countries.‹
The critical remarks about Leninism that drew the wrath of Professor Konstantinov were made by Mr. Cisar at a meeting in Prague commemorating the 150th anniversary of the birth of Marx. [...]
Professor Konstantinov charged that Mr. Cisar’s criticism on Leninism put him into the ranks of L. Martov and Fyodor Don, Russian Mensheviks who, fearing a tyranny, opposed Lenin’s insistence on iron discipline and tight organization in a party headed by professional revolutionaries.
›Attempts to give a different non-Leninist interpretation of Marxism, Marxist philosophy, Marxist political economy and scientific Communism have become fashionable among contemporary revisionists,‹ Professor Konstantinov protested.
Citing the industrial and economic successes of the Soviet Union under Leninism, he asserted that Leninism had become ›the banner of the world’s Communist movement.‹
He accused ›revisionist exponents of reform‹ of seeking to discredit Leninism and of ›demagogically preaching a ›rebirth‹ of Marxism without Leninism.‹ Defending the Soviet adaptation of Marxism as applicable to all countries, Professor Konstantinov said: ›Communists have always considered, and still consider, Leninism as not a purely Russan [sic], but rather an international Marxist doctrine. And this is the reason that Marxist parties of all countries have originated and developed on its basis‹«; vgl. auch DER SPIEGEL 24.6.1968, S. 66.

1365, 28 Leninismus - Weiterentwicklung und Abwandlung des Marxismus durch Lenin auf Grund der nach dem 1. Weltkrieg entstandenen neuen historischen Situation. Er wurde 1920 für alle komm. Parteien für verbindlich erklärt: u.a. Rechtfertigung des Beginns der proletarischen Weltrevolution in dem rückständigen Rußland (nach Marx hätte die Revolution im technisch fortgeschrittensten Land ausbrechen müssen); Lehre von der »Kaderpartei« als Vorhut der Arbeiterklasse; zentralistische Ausübung der Macht, Verbot von Fraktionsbildungen; scharfer Kampf gegen alle »revisionistischen« Bestrebungen; s.K. 1165, 23; s. 1366, 2-8.

1365, 34 Julij Ossipovič Martov (Zederbaum) - Julij Ossipowitsch Martow, Pseudonym: Zederbaum (24.11.1873-4.4.1923), neben Kautsky und Luxemburg wichtiger Kritiker der bolschewistischen Ideologie. Er gründete 1885 mit Lenin den »Kampfbund zur Befreiung«, wurde später zum Führer des linken Flügels der Menschewiki, der sich 1903 von Lenins Bolschewiki abtrennte; gehörte 1905 dem Petersburger Arbeiterrat an, mußte 1907 emigrieren; Rückkehr 1917 und abermalige Emigration 1920 als entschiedener Gegner Lenins.

1365, 35 »Iskra« - (russ.) Funke; von Lenin, Plechanow, Martow u.a. im Dezember 1900 in München gegr. Zeitung, die nach Rußland geschmuggelt wurde.

1365, 36 Revisionisten - Bezeichnung für politische Gegner der Kommunisten »aus den eigenen Reihen«, die die marxistische Theorie abwandelten und einer veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit anpassen wollten, z.B. die Veränderung der Gesellschaft auf friedlichem reformerischem Weg. Revisionisten galten als »vom Imperialismus bzw. dem Kleinbürgertum korrumpierte« Opportunisten; s.K. 1456, 14f.; s. 1366, 4; 1522, 22.

1366, 13 Lenken Sie Ihr ... auf das Finish - Anspielung auf den Prolog zu Bertolt Brechts »Im Dickicht der Städte«: »und lenken Sie Ihr Interesse auf das Finish«; Finish: (engl.) Ende, Ziel (Linie).

1366, 15-20 Denn wo befinden ... mit der Sowjetunion - Vgl. den Artikel »Dubcek and Kadar Stress Solidarity with Soviet« der NYT vom 15.6.1968: »The leaders of Czechoslovakia and Hungary, Alexander Dubcek and Janos Kadar, declared their solidarity with the Soviet Union today while committing themselves to continuing the democratization of their governments.
The two leaders also signed a 20-year friendship pact, which both hinted could serve as a model for wider European cooperation. [...]
Mr. Dubcek emphasized the importance of Czechoslovakia’s alliance with the Soviet Union as he has done ever since he took office in January«; Dubček: s.K. 554, 36.

1366, 24 Präsidenten Smrkovský - Josef Smrkovský (26.2.1911-14.1.1974), tschechos. Politiker, einer der führenden Reformpolitiker des Prager Frühlings, 1952 wegen »staatsfeindlicher« Tätigkeit zu lebenslänglicher Haft verurteilt, 1963 rehabilitiert, 1966-69 Mitglied des ZK, 1968-69 Mitglied des Parteipräsidiums und Präsident der Nationalversammlung, 1969 aller Ämter enthoben und aus der Partei ausgeschlossen. Vom 4.-15.6.1968 befand sich eine Delegation der Nationalversammlung, geleitet von Josef Smrkovský, in Moskau. Die dort betonte herzliche Atmosphäre stand im Kontrast zu den polemischen Angriffen Konstantinows; s.K. 1510, 2-16; 1522, 16-32.

1366, 25f. Leonid I. Breshnev - s.K. 541, 2.