Der konservative Hochadel hielt an dem Begriff der mittelalterlichen
Staatsnation fest, der nur die Angehörigen der privilegierten Stände
ohne ethnische Unterschiede umfaßte (natio hungarica). Andere
Teile des Adels, wie z.B. Széchenyi
in der Reformperiode, dehnten die Nation auf alle Staatsbürger ohne ethnische
Unterschiede aus. Der zahlenmäßig größte und auch politisch
stärkste, weil die Macht in den Komitaten
ausübende, Teil des magyarischen Adels, der mittlere Adel, dehnte den
Nationsbegriff ebenfalls auf alle Bürger Ungarns aus. Er wollte aber
auf der Grundlage der Identität von Nation und Staat die natio hungarica
in eine natio magyarica umwandeln, also einen magyarischen Nationalstaat
schaffen. Im Dualismus setzte sich dieser Nationsbegriff des mittleren Adels
durch. Der unteilbaren, einheitlichen, ungarischen politischen Nation gehörten
alle Bürger Ungarns ohne Rücksicht auf ethnische Herkunft an. Hieraus
wurde der Anspruch auf die territoriale Integrität, die die historische,
geographische, wirtschaftliche und politische Einheit Ungarns beinhaltete,
und auf einen zentralistischen Staat abgeleitet. Für die Nationalitäten
in Ungarn folgte hieraus, daß ihre politische Existenz als Gruppe nicht
anerkannt wurde, und daß gleichzeitig alle Forderungen nach Autonomie
als mit dem Begriff der ungarischen politischen Nation und der territorialen
Integrität unvereinbar zurückgewiesen wurden.
Damit barg die Konzeption des einheitlichen ungarischen Nationalstaats
von Beginn an den Gedanken der Magyarisierung der Nicht-Magyaren in sich.
Seinen ersten Niederschlag fand das magyarische Streben nach Hegemonie über
die Nationalitäten in dem Nationalitätengesetz von 1868. Das Gesetz
ging auf die bereits 1861 von Ferenc
Deák und József
Eötvös (s.
Bild) entwickelte Konzeption zurück, die vergleichsweise noch viele
positive Elemente enthielt. Beide wollten keine politische magyarische Suprematie
schaffen, sondern gingen davon aus, daß sich die Nationalitäten
auf Grund der höheren Bildungs- und Kulturstufe des Magyarentums freiwillig
assimilieren würden. Den Nationalitäten wurden im Nationalitätengesetz
die Anerkennung als gleichberechtigte Nationen sowie korporative Rechte versagt.
Dementsprechend wurde ihnen auch keine territoriale Autonomie zuerkannt. Stattdessen
bildeten ihre Angehörigen als Individuen gleichberechtigte Mitglieder
der unteilbaren, einheit-lichen ungarischen Nation. Das Ungarische wurde zur
Staatssprache erhoben, der Gebrauch der Nationali-tätensprachen wurde
nur auf der unteren Verwaltungs-ebene gestattet.