Die grundlegenden Änderungen des 11. Jahrhunderts haben
auch die ungarische Gesellschaft umgeformt. Während die älteren
Quellen nur sehr wenige Hinweise auf die ungarische Gesellschaft enthalten,
liefern uns die aus der Herrschaftszeit Stephans
d. Hl. stammenden Gesetzbücher bereits ein ziemlich detailliertes Bild
der zeitgenössischen ungarischen Gesellschaft. Je nach Verfügbarkeit
über die eigene "Freiheit" (in der lateinischsprachigen Terminologie
der Epoche libertas) spaltete sich die ungarische Gesellschaft der
Stephan-Zeit - wie auch in den darauffolgenden Jahrhunderten der Árpádenzeit
- in zwei klar abgegrenzte Gruppen: in die Schicht der Freien (liber),
die über sich selbst verfügten, und die der Unfreien oder Hörigen
(servus), die ihren Herren unterworfen waren und Teil ihres Besitztums
bildeten.
Die Trennlinie zwischen Freien und Hörigen war scharf: Die Hörigen
zählten nicht zum "Volk des Landes", sie fielen laut zeitgenössischer
Auffassung außerhalb der Gesellschaft, wurden aber als menschliche Wesen
betrachtet. Es bestand zudem keine unüberbrückbare Kluft zwischen
den Hörigen und den Freien. Die Freien konnten in die Hörigkeit
herabfallen - z.B. als Strafe für ein Vergehen -, und umgekehrt bestand
auch die Möglichkeit, daß Hörige durch ihren Herrn in die
Schicht der Freien erhoben wurden.
Über die Schicht der Hörigen zur Regierungszeit
Stephans haben wir keine genauen Kenntnisse, es gibt jedoch einige Anhaltspunkte.
Mit Sicherheit ist anzunehmen, daß die Ungarn bereits vor der Gründung
der christlichen Monarchie die Institution der Knechtschaft kannten. Die Ungarn
handelten mit Geiseln, indem sie ihre aus der slawischen Nachbarschaft stammenden
Geiseln bei byzantinischen Kaufleuten gegen Luxusgüter eintauschten.
Auch behielten sie einen Teil ihrer Geiseln für eigene Zwecke. Es ist
wahrscheinlich, daß die Bewohner des Karpatenbeckens, die die Landnahme
der Ungarn überlebten, ebenfalls in Hörigkeit gerieten. Schließlich
haben die in West- und Südeuropa jahrzehntelang Angst verbreitenden Ungarn
von dort eine bedeutende Zahl Geiseln verschleppt.
Über die Freien verfügte kein Herr im Sinne eines Besitzverhältnisses,
d.h. ein Freier war, unabhängig von der Größe seines Vermögens,
Herr über sich selbst. Nach den Gesetzbüchern war für die Gesellschaftsschicht
der Freien eine Doppelheit charakteristisch. In rechtlicher Hinsicht war diese
Schicht einheitlich, doch umso größere Unterschiede bestanden in
der Vermögenslage und im öffentlichen Ansehen.