Das durch den Systemwechsel geschaffene politische System erlitt
in der Zeit der Antall-Regierung durchaus einige Erschütterungen. Gleich
zu Beginn der Amtszeit offenbarte eine Blockade, die auf Grund von Benzinpreiserhöhungen
von Taxifahrern ausgegangen war und den Straßenverkehr im ganzen Land
lahmlegte, die Unfähigkeit der Regierung, mit politischer Erpressung
umzugehen und ein erfolgreiches Krisenmanagement durchzuführen. Zugleich
drückte die Blockade eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik
und einen Protest gegen die sozialen Kosten des marktwirtschaftlichen Systemwandels
aus, sie stieß auf eine breite Unterstützung durch die Bevölkerung.
Als belastend für die demokratische Entwicklung Ungarns erwies sich auch
der Medienkrieg, in dessen Verlauf durch personalpolitische Eingriffe sichtbar
wurde, daß die Massenmedien Rundfunk und Fernsehen in eine Funktion
als ausschließliche Regierungsmedien gedrängt werden sollten.
Auch die revisionistische Züge aufweisende Position mancher Politiker
der Regierungskoalition zu Fragen der ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten
führte einige Male zu erheblichen Irritationen. Allerdings war die Antall-Regierung
im Laufe ihrer Amtszeit bemüht, derartige Positionen zu "entschärfen"
und deutlicher zum Ausdruck zu bringen, daß sie ihre Verantwortung für
die Konnationalen im Sinne des sprachlichen
und kulturellen Zusammenhalts einer Kulturnation und nicht
einer politischen Nation ausübt. Viele Probleme wurden durch das hohe
moralische Ansehen des Ministerpräsidenten József
Antall überdeckt und brachen erst richtig nach seinem Tod im Dezember
1993 aus, weil sein Nachfolger Boross bei weitem nicht über die moralisch-politische
Kompetenz Antalls (s. Bild)
verfügte. Insgesamt erwies sich Ungarn in den vier Jahren der ersten
Legislaturperiode nach der Wende als ein im Innern relativ stabiles und nach
außen hin verläßliches Land.
Dennoch scheiterte die Regierungskoalition in den Wahlen 1994 in einer erdrutschartigen
Niederlage. Die Gründe hierfür waren vielschichtig. Die Gesellschaft
hatte unerfüllbare subjektive Erwartungen in dem Sinne, daß Demokratie
mit sofortigem Wohlstand gleichgesetzt wurde. Weiter bestand eine gewisse
Diskrepanz zwischen dem politisch-institutionellen und dem sozio-ökonomischen
Systemwechsel. Beide Prozesse fanden zwar simultan statt, verliefen aber nicht
synchron. Der Prozeß der sozio-ökonomischen Transformation, also
der Abbau des alten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems und der Aufbau einer
neuen Zivilgesellschaft, erwies sich als wesentlich langwieriger und komplizierter
als die Neuordnung des politischen Systems.