Selbstverständlich enthält dieses grundsprachliche
Konstrukt zahlreiche hypothetische und heftig umstrittene Elemente. Dennoch
ergeben die linguistischen Erkenntnisse, insbesondere wenn sie in komplexer
Weise mit archäologischen, paläobotanischen, klimageschichtlichen
und historischen Untersuchungsergebnissen verknüpft werden, eine konkrete
und in der Fachwelt weitgehend akzeptierte Vorstellung für die geographische
Lokalisierung der uralischen bzw. finnougrischen Urheimat. Die uralische Urheimat
(s. Bild / Karte)
erstreckte sich hiernach vom mittleren Ural nach Osten bis zum Mittellauf
des Ob und des Irtyš. Die Uralier waren also zur Zeit der gemeinsamen
Urheimat ein in West-Sibirien lebendes Volk. Ein Volk - wie der Grundwortschatz
zeigt - von Jägern, Sammlern und Fischern, das sich an die spezifischen
natürlichen Bedingungen gut angepaßt hatte.
Die Auflösung der uralischen Gemeinschaft setzte um 4000 v. Chr. durch
Abwanderung (s. Karte) der Samojeden
in östliche und der finnougrischen Bevölkerungsteile in westliche
Richtung über den Ural hinweg in das Gebiet zwischen dem Ural und dem
Fluß Kama ein. Die Finnougrier lebten auf dem Gebiet der Ural-Kama-Kultur,
das sich beiderseits des Urals von Ob und Irty bis zum Zusammenfluß
von Kama und Wolga erstreckte. Die Vorfahren der Ungarn verblieben mit großer
Wahrscheinlichkeit in ihrem alten Siedlungs-gebiet.
Die Einheit der finnougrischen Sprachen brach in der Mitte
des 3. Jahrtausends v. Chr. auseinander, als sich Teile der Finnougrier in
westliche Richtung entlang der Wolga in Bewegung setzten und sehr schnell
ein Gebiet besiedelten, das sich bis zum Baltikum und Südfinnland erstreckte.
Auf diesem von Finnougriern besiedelten riesigen Territorium zerfiel die sprachliche
Einheit - ein Prozeß, der sich relativ gut mit dem Zerfall der Ural-Kama-Kultur
und dem Auftreten neuer archäologischer Kulturen synchronisieren läßt.
Für diese Periode lassen sich drei Kulturen nachweisen: die Volosovo-Kultur
von der Einmündung der Kama in die Wolga bis zum Baltikum, die Turbino-Kultur
im Gebiet der Kama und die Andronovo-Kultur in West-Sibirien. Diese drei Kulturen
entsprechen den drei großen Zweigen der finnougrischen Sprachfamilie:
dem finnovolgaischen, dem permischen und dem ugrischen Zweig. Die Gründe
für die Wanderungsbewegungen und damit den Zerfall der finnougrischen
Einheit waren vermutlich vor allem ökonomischer Art: Suche nach neuen,
besseren Jagd- und Fischgründen, Aufnahme neuer Wirtschaftsformen, insbesondere
von Ackerbau und Viehzucht, eventuell eine relative Überbevölkerung
und schließlich der Druck benachbarter Völker.