Anna Luisa Karsch: Belloisens Lebenslauf (ca. 1761/62)

Die autobiographische Ode ist eines der ersten >realistischen< Gedichte über einen weiblichen Lebenslauf in Deutschland. Sie entsteht in einer relativ glücklichen späten Phase von K.s Leben, als sie sich ohne tägliche Mühen und Sorgen um den Lebensunterhalt der Dichtkunst widmen kann. Obwohl sie sich selbst in der Überschrift poetisch idealisiert (Belloise = >La Belle Louise<, französisch für >die schöne Luise<), verkitscht sie ihren Lebenslauf nicht mit Versatzstücken anakreontischer Modedichtung, sondern benennt die erlebten Härten sachlich und deutlich, sie schämt sich auch ihrer ärmlichen Herkunft nicht.

Die Natur ist in der Darstellung schön und friedlich; sie steht durchaus in einer poetischen Tradition der Bukolik und Anakreontik. K. hebt jedoch unmißverständlich hervor, daß diese Sichtweise im Gegensatz zu den sozialen Aufgaben der Frau steht, die als oft belastend erfahren werden. Zum Beispiel das »Ehejoch« wird hier wohl erstmals in deutscher Poesie offen so benannt.

Formal verläuft der Text in einem erzählenden Strom, ohne Strophengliederung. Die Ode besteht aus vierhebigen jambischen Versen.

Anna Luisa Karsch
Belloisens Lebenslauf

(Vollständiger Text)

Ich ward geboren ohne feierliche Bitte
Des Kirchspiels, ohne Priesterflehn
Hab ich in strohbedeckter Hütte
Das erste Tagslicht gesehn,
Wuchs unter Lämmerchen und Tauben
Und Ziegen bis ins fünfte Jahr,
Und lernt', an einen Schöpfer glauben,
Weil's Morgenroth so lieblich war,
So grün der Wald, so bunt die Wiesen,
So klar und silberschön der Bach!
Die Lerche sang für Belloisen,
Und Belloise sang ihr nach.
Die Nachtigall in Elsensträuchen
Erhub ihr süßes Lied, und ich
Wünscht' ihr im Tone schon zu gleichen.
Hier fand ein alter Vetter mich
Und sagte: du sollst mit mir gehen.
Ich ging und lernte bald bei ihn
Die Bücher lesen und verstehen,
Die unsern Sinn zum Himmel ziehn.
Vier Sommer und vier Winter flogen
Zu sehr beflügelt uns vorbei;
Des Vetters Arm ward ich entzogen
Zu einer Bruderwiege neu.
Als ich den Bruder groß getragen,
Trieb ich drei Rinder auf die Flur,
Und pries in meinen Hirtentagen
Vergnügt die Schönheit der Natur.
Ward früh ins Ehejoch gespannet,
Trug's zweimal nacheinander schwer,
Und hätte mich wol nichts ermannet,
Wenn's nicht den Musen eigen wär,
Im Unglück und in bittern Stunden
Dem beizustehn, der ihre Huld
Vor der Geburt schon hat empfunden.
Sie gaben mir Mut und Geduld,
Und lehreten mich Lieder dichten,
Mit kleinen Kindern auf dem Schoß.
Bei Weib- und Magd- und Mutterpflichten,
Bei manchem Kummer, schwer und groß,
Sang ich den König und die Schlachten,
Die Ihm und seiner Heldenschar
Unsterblichgrüne Kränze brachten,
Und hatte noch manch saures Jahr,
Eh frei von andrer Pflichten Drang
Mir Tage wurden zu Gesang!

 

Zitiert nach: Karschin, Anna Louisa: Gedichte und Lebenszeugnisse. Hg. v. Alfred Anger. Stuttgart 1987 [= RUB 8374]. S.69