Schön wird die Dichtung genannt, weil die schon aus der Antike überlieferten Regeln für kunstvolle sprachliche Gestaltung (Poetik, Rhetorik) darin angewendet werden. Durch ihre Schönheit gilt Literatur als unterhaltend und angenehm. Sie hat aber keine eigenständige Bedeutung als etwas Besonderes, Unverwechselbares: sie ist Teil der universellen Gelehrsamkeit der Aufklärung und damit akademisches Unterrichtsfach. Schöne Literatur gilt als erlernbar wie andere Künste auch. Dieser Begriff von >Kunst< hat noch wenig zu tun mit seiner herausragenden (emphatischen) Bedeutung in der Moderne: er bezieht sich auf einen Bereich, in dem bestimmte Fertigkeiten erlernt und in einem vorgegebenen Rahmen ausgeübt werden. Die Aufklärung ist in diesem Sinne die Kulminationsepoche des alten Traditionssystems; zugleich ist sie eine Umbruchepoche, die die Neuzeit vorbereitet.
Spezifisch aufklärerisch ist, daß Dichtung außerdem
belehren soll. Die Formel >belehren und unterhalten<
(aufgestellt bereits vom Römer Horaz in der Formel >prodesse et
delectare< auf Lat.) beschreibt diesen Sachverhalt treffend. Eine weitere
beliebte deutsche Formel lautet: Literatur dient dem >Nutzen<
und >Vergnügen<. Entsprechend gelangt als Neuheit auch
eine vierte Gattung zu hohem Ansehen: die Lehrdichtung
(Didaskalien).
Dieses Verständnis von Literatur ist vormodern, d. h. sie wird sich erst über Sturm und Drang, Klassik und Romantik hinweg zu dem entwickeln, was wir heute Literatur nennen. Dichtung kann nämlich eigentlich mehr, als bekannte Dinge schöner sagen. Dies beflügelt kritische Poeten schon im 18. Jahrhundert: ihr Ziel ist die Befreiung der Poesie von gelehrten Zwängen in Stil, Inhalt und Verbreitungsweise zu beweisen, daß es eigene >Seelenvermögen< der Kunst gibt, weil die Schönheit durch sinnliche Eindrücke auf das Gemüt wirkt und nicht nur durch Vernunft auf den Verstand (Begründung einer Ästhetik).
Die Entwicklung vollzieht sich über eine heftige Kritik und die Entwicklung aufwendig begründeter theoretischer Programme. Eine engagierte Untersuchung und Modifikation der aus der Antike vorgegebenen Gattungstheorie schafft Kategorien, in denen einzelne, gattungsspezifische Entwicklungsschritte zu beobachten sind: das poetologische Schema wird an vielen einzelnen Stellen zugleich aufgeweicht und modifiziert.
Die Entstehung des modernen Literaturbegriffs wird von dieser Diskussion geleitet. Die Frage, was Literatur sei und welche Funktion sie habe, wird theoretisch durch Vorschläge aus der Philosophie und praktisch durch Literaturkritik oder vorbildgebende Texte untersucht.
Die Aufklärungsepoche beginnt als Zeitalter der Regelpoetik. Diese Regeln werden im Laufe der kritischen Diskussionen über Literatur nach und nach in Frage gestellt, schließlich aufgehoben (dieser Prozeß ist detailliert nachzuvollziehen in Gellerts Vorlesung über den Nutzen der Regeln). Somit beginnt die Literatur der Aufklärung im traditionellen System der Frühen Neuzeit. Sie wandelt sich schließlich zu einem Vorläufer der neuzeitlichen, in mancher Hinsicht bereits der modernen Literaturauffassung.
Ganz der aus der Antike hergeleiteten Tradition entspricht die Darstellung der literarischen Ereignisse und Formen durch mythologische Bilder: die alte Bedeutung der antiken Götter, Helden und Musen wird zur Begründung und Klassifizierung von Literatur herangezogen. Freilich ist der metaphorische Charakter dieser Beschreibungen allen klar, niemand glaubt im 18. Jahrhundert mehr an Musen, doch werden sie aus Konvention immer wieder zur bildlichen und symbolischen Kennzeichnung der Schönen Literatur herangezogen.